Polizeibeamte begleiten einen abgelehnten Asylbewerber in ein Flugzeug.

Rund 900 Menschen betroffen

Zahlreiche Russen und einige Ukrainer aus BW werden wegen des Krieges vorerst nicht abgeschoben

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Oliver Linsenmaier
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SWR-Recherchen zeigen, dass in Baden-Württemberg rund 900 Menschen aus Russland und der Ukraine leben, die eigentlich abgeschoben werden sollen. Gerade bei den ukrainischen Staatsangehörigen ist die Situation kompliziert.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wirkt sich auch auf die Abschiebungen von Migrantinnen und Migranten in Baden-Württemberg aus. So wird seit Beginn des Krieges aufgrund der aktuellen Situation nicht mehr in die Ukraine abgeschoben. Und auch nach Russland und Weißrussland wurden die Abschiebungen ausgesetzt. Davon betroffen sind rund 900 Personen, die derzeit im Land leben.

Mehr als 800 russische Staatsangehörige sollen abgeschoben werden

Den weitaus größeren Teil machen dabei russische Staatsangehörige aus. Wie das baden-württembergische Justizministerium auf SWR-Anfrage mitteilt, gibt es im Land derzeit (Stand 31. Mai) 822 Russinnen und Russen, die eigentlich abgeschoben werden sollen. Hinzu kommen neun weißrussische Staatsangehörige.

Fehlende Flugverbindungen verhindern Abschiebungen

Formell spricht eigentlich nichts gegen die Abschiebungen. "Die Personen sind vollziehbar ausreisepflichtig", erklärt Gunter Carra, Pressesprecher des Justizministeriums. "Die Abschiebung ist in diesen Fällen jedoch aufgrund von vorliegenden Abschiebungshindernissen ausgesetzt." Konkret bedeutet das: Da es aktuell keine Flugverbindungen nach Russland oder Weißrussland gibt, können russische und weißrussische Staatsangehörige nicht abgeschoben werden.

Erst wenn sich das wieder ändert, könnte wieder mit Rückführungen in diese Länder begonnen werden. Allerdings würde dann auch erst geprüft, ob die jeweilige Person weiterhin "vollziehbar ausreisepflichtig" ist und "keine weiteren Abschiebungshindernisse" vorliegen, erläutert Carra.

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Zahl der ausreisepflichtigen Russen hat sich durch Krieg kaum verändert

Im Übrigen hat sich die Zahl der russischen Staatsangehörigen, die sich in Baden-Württemberg aufhalten und eigentlich abgeschoben werden sollen, durch den Krieg nicht stark verändert. Laut Justizministerium waren es Ende 2021, also knapp zwei Monate vor Ausbruch des Krieges, 824 Personen.

Weitaus komplizierter ist die Situation der 77 Ukrainerinnen und Ukrainer, die "formell ausreisepflichtig" sind. Wegen des Krieges sind auch hier die Abschiebungen ausgesetzt. Unklar ist jedoch, inwieweit diese 77 Personen unter den Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes fallen.

Temporäre Aufenthaltserlaubnis für Kriegsflüchtlinge

Dieser sieht für die mehr als 100.000 nach Baden-Württemberg geflohenen Menschen aus der Ukraine eine temporäre Aufenthaltserlaubnis vor. Voraussetzung dafür ist, dass die Betroffenen bis zum 24. Februar in der Ukraine gelebt haben. Oder: "Schutz erhalten aber auch Personen, die nicht länger als 90 Tage vor dem 24. Februar 2022, als die Spannungen zunahmen, aus der Ukraine geflohen sind oder sich kurz vor diesem Zeitpunkt im Gebiet der EU befunden haben und infolge des bewaffneten Konflikts nicht in die Ukraine zurückkehren können", erklärt Carra.

77 Ukrainer fallen wohl nicht unter Paragraph 24

Im Umkehrschluss bedeutet das: Die 77 ukrainischen Staatsangehörigen fallen nicht unter Paragraph 24 und wären eigentlich weiterhin ausreisepflichtig. Zwar werden sie derzeit geduldet, doch nach aktueller Gesetzeslage müssten sie nach Ende des Krieges abgeschoben werden. Das bestätigt indirekt auch Carra: "Sofern die Personen bei einem etwaigen Ende des Krieges nach wie vor vollziehbar ausreisepflichtig sind und keine Abschiebungshindernisse vorliegen, müsste im Einzelfall geprüft werden, ob aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten sind."

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Bis nach dem Krieg will der baden-württembergische Flüchtlingsrat nicht warten. Seán McGinley, Leiter der Geschäftsstelle in Stuttgart, fordert die Politik schon jetzt zum Handeln auf. Es gäbe sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene verschiedene Möglichkeiten, die keine Gesetzänderungen bräuchten, meint McGinley auf SWR-Anfrage. "Aus unserer Sicht wäre es geboten, eine Möglichkeit zu finden, diesen Personen Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen", sagt er.

Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen?

Laut McGinley könnte das Bundesinnenministerium mit Blick auf ein an die Länder verschicktes Schreiben zu Paragraph 24 klarstellen, dass darunter auch Personen fallen, die keinen Duldungsgrund vorweisen können. Und: "Die Landesregierung könnte anordnen, geduldeten Ukrainern und Ukrainerinnen Aufenthaltserlaubnisse nach Paragraph 25, Absatz 5 zu erteilen, weil die Ausreise aktuell unzumutbar ist", sagt McGinley. Das würde einen Aufenthalt aus humanitären Gründen rechtfertigen.

Auch in Paragraph 23, Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes sieht er Möglichkeiten. Laut McGinley könnte das Justizministerium aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, "dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird."

Flüchtlingsrat beschäftigt sich oft mit Einzelfällen

Zu den neun weißrussischen, 77 ukrainischen und 822 russischen Staatsangehörigen, die eigentlich abgeschoben werden sollen, kann McGinley nichts sagen. Meist bekomme man nur von Einzelfällen etwas mit, wenn diese an den Flüchtlingsrat herangetragen würden. Außerdem gibt es in Baden-Württemberg laut Ministerium aktuell 35.000 Menschen, die ausreisepflichtig sind - ein Höchststand in den vergangenen zehn Jahren. Fälle von russischen oder weißrussischen Oppositionellen, die aus Baden-Württemberg abgeschoben werden sollen, sind McGinley bislang aber nicht bekannt. Das heiße aber nicht, dass es diese nicht auch gäbe.

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